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«work & care»

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Erwerbstätig sein und Angehörige pflegen - wie geht das zusammen?

Immer mehr Personen vereinbaren diese Lebensbereiche. Aktuell auch, weil das Rentenalter steigt und weil der medizinische Fortschritt mehr und längeren Pflegebedarf erzeugt.

Impulse aus bald 20 Jahren zeigen die Herausforderungen und Lösungsansätze.

Seit 2007 fördern wir «work & care» in der Schweiz mit Forschung, Entwicklung und Meinungsbildung, angereichert mit internationalen Impulsen.

Das ABC für Arbeitnehmende und Arbeitgebende

Kacheln
Inhaltsverzeichnis
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Angehörige von der Spitex anstellen

Mit dem Erwerbsmodell der Anstellung bei der Spitex sind pflegende Angehörige im ersten Arbeitsmarkt tätig. Folgende Eckpunkte zeichnen das Modell aus:
  • Die Angehörigen erhalten für die Pflege ihrer Nahestehenden einen Arbeitsvertrag von einem Spitexbetrieb und haben somit Rechte und Pflichten als Arbeitnehmende. Wenn sie die Anstellung beenden, erhalten sie ein Arbeitszeugnis und haben so bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Sie können im Spitexbetrieb weiterbeschäftigt werden, wenn die nahestehende Person verstirbt oder ins Pflegeheim umzieht.
  • Den Umfang der Anstellung und die Lohnhöhe bestimmen der Spitexbetrieb. Dieser rechnet die von den Angehörigen erbrachten Leistungen über die Krankenversicherung der gepflegten Person ab.
  • Die Anstellungsprozente richten sich nach dem Pflegebedarf der Nahestenden. Meistens führt dies zu einem kleineren Teilzeitpensum. Entsprechend ist eine zweite Anstellung bei einem anderen Arbeitgeber möglich.
  • Im Administrativvertrag erläutert der Anhang zu pflegenden Angehörigen, wer als Angehörige verstanden wird, und welche Bildungsvoraussetzungen für eine Anstellung gelten.
  • Der Spitexbetrieb ist für die Qualität der geleisteten Arbeit verantwortlich und hat auch eine Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeitenden. Während der Arbeitszeit unterstehen die angestellten Angehörigen der Betriebshaftpflichtversicherung des Spitexbetriebs.
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Bundesgesetz zur Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung umsetzen

Im Jahr 2021 trat in der Schweiz ein neues Bundesgesetz in Kraft, das für erwerbstätige Angehörige einige Verbesserungen bringt:

  • Die Lohnfortzahlung bei kurzen Arbeitsabwesenheiten ist im Obligationen-recht nun geregelt. Der Umfang beträgt pro Jahr maximal 10 Tage und höchs-tens drei Tage pro Ereignis.
  • Der Anspruch auf AHV Betreuungsgutschriften wurde ausgeweitet.
  • Der Intensivpflegezuschlag und die Hilflosenentschädigung der IV für Kinder werden neu während eines Spitalaufenthaltes des Kindes fortgesetzt.
  • Neu haben erwerbstätige Eltern Anspruch auf einen bezahlten 14-wöchigen Betreuungsurlaub für ein schwer beeinträchtigtes Kind (finanziert durch die Erwerbsersatzordnung), den sie innerhalb von 18 Monaten beziehen müssen.

Gesetzestext

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Chronisch Kranksein und Leben mit Beeinträchtigung verstehen

Arbeitnehmende müssen an ihrem Arbeitsort niemandem die Diagnose ihrer Nahestehenden mitteilen. Hilfreich sind aber Angaben zu einem möglichen Verlauf, um die Zukunft proaktiv planen zu können. Die Beispiele in der folgenden Tabelle weisen Arbeitgebende und Personalverantwortliche auf mögliche Dynamiken und Zeitverläufe von Gesundheitseinschränkungen hin. Damit können die Beteiligten die Situation gemeinsam besser einschätzen und planen.
Entwicklung
Langsam Rasch
Dauer
Lang
(über ca. 3 Monate)
Beispiele
  • Demenz
  • Depression
  • Diabetes Mellitus Typ 2
  • Bluthochdruck
  • Multiple Sklerose
  • Parkinson
  • Schizophrenie (chronisch)
  • Sucht (Alkohol, Medikamente)
Beispiele
  • Geburtsbeeinträchtigung
  • Krebs (z. B. Leukämie)
  • Schlaganfall mit bleibenden Folgen
  • Unfall mit bleibender Einschränkung
Kurz
(unter ca. 3 Monate)
Beispiele
  • Burnout
  • Schizophrenie Schub
  • Arthritis Schub
  • Herzschwäche mit rascher Einlagerung von Wasser (Herz, Lunge, Beine)
Beispiele
  • Frühgeburt (ohne Folgeschäden)
  • Herzinfarkt (bei optimaler Notfallbehandlung)
  • Geplante Operation (z. B. Hüftgelenksersatz)
  • Lungenentzündung
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Distance Caregiving ermöglichen

  • Bei Distance Caregiving (DiCa) helfen pflegende und betreuende Angehörige ihren Nahestehenden über nationale und internationale Distanzen hinweg – eine wachsende Realität bei steigender Arbeitsmigration und global verteilten Familien. Aber bisher ist dies kaum im Bewusstsein von Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden angekommen.
  • Überstürzte Abwesenheiten am Arbeitsplatz lassen sich vermeiden oder zumindest vermindern, wenn erwerbstätige Angehörige dank online Tools flexibel arbeiten können.
  • Gleichzeitig öffnet DiCa den Blick: Neben traditionell mit Pflege verbundenen Handreichungen werden auch andere für die Pflege grundlegenden Aufgaben berücksichtigt, z. B. emotionaler Support, Untersuchungs- und Behandlungsentscheidungen besprechen, Motivation fördern, Koordination/Administration/Organisation erledigen, Information einholen sowie Sicherheit gewährleisten.
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Erfahrungen erwerbstätiger Angehöriger wertschätzen

  • Erwerbstätige Angehörige entwickeln mit der Zeit ein spezifisches Erfahrungswissen für ihre Situation. Sie werden so zu «Expert:innen aus Erfahrung». Deshalb greift das weit verbreitete Belastungsparadigma zu kurz. Mehr noch: Wenn Angehörige eine starke und umfangreiche Rolle in der Gesundheitsversorgung spielen sollen – wie dies gesundheitspolitisch seit Jahrzehnten gewollt ist – kann man sie nicht gleichzeitig vorwiegend als «Mängelwesen» etikettieren.
  • Vielmehr ist ein modernisiertes Verständnis zu ihrer Rolle im Versorgungsgeschehen angezeigt. Sie sind wesentlich mitgestaltende Akteure, die aufgrund ihrer Erfahrungen lösungsorientiert handeln können.
  • Zwar erleben sie auch Schwierigkeiten und Frustrationen, treten aber dennoch oft aktiv und kreativ Beteiligte auf. Deshalb: Sowohl am Arbeitsort als auch in der Gesundheitsversorgung ist ein Wandel weg vom Belastungs-, über das Befähigungs- hin zum Expertiseparadigma überfällig.
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Fakten zusammentragen

Fakten zu erwerbstätigen Angehörigen werden mittels Befragungen in zwei Gruppen erhoben:

  • In der Gesamtbevölkerung: In der Schweiz leben rund 592'000 Angehörige, die ihre Nächsten pflegen und betreuen, davon sind rund 49'000 junge pflegende Angehörige (9 bis 15J.). Knapp zwei Drittel der erwachsenen Angehörigen sind erwerbstätig. Im Erwerbsalter (16-64jährig) betrifft dies rund vier von fünf Angehörigen. Aufgeteilt nach Altersgruppen bedeutet dies: 75% sind 16-25jährig, 87% 26-49jährig und 79% 50-64jährig. Der grösste Teil der Angehörigen mit hoher Betreuungsintensität arbeitet Teilzeit.
    Der «Barometer Gute Arbeit» integrierte im Jahr 2021 erstmals «work & care»: 3% von Personen zwischen 16 und 64 Jahren unterstützen sehr häufig und regelmässig erwachsene Nächste. 18.7% taten dies oft und 42.2% selten.
  • In Betrieben: Zum Befragungszeitpunkt sorgten in einem Privatunternehmen 12% der Mitarbeitenden für eine pflegebedürftige nahestehende Person, in einer öffentlichen Verwaltung waren es 15%.
    Personalverantwortliche in einer repräsentativen Befragung schätzten, dass aktuell 8% der Mitarbeitenden private Sorgearbeit für ihre Nächsten leisten,in den letzten drei Jahren lag ihre Schätzung bei 12%.

Berichte und Ergebnisse zum BAG Förderprogramm «Entlastung betreuender Angehöriger» (2017-2020):
Bedürfnisse/Bedarf von betreuenden Angehörigen (Kurzfassung)
Massnahmen von Unternehmen (Kurzversion)
Alle Berichte

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Gesundheitsbranche fokussieren

Die Gesundheitsbranche wächst und ist mit «work & care» gefordert – und dies gleich dreifach:

  • Die Gesundheitsbranche ist eine ausgeprägte Frauenbranche. Mit der Feminisierung der Medizin nimmt dies weiter zu. Die traditionelle Rollenverteilung für Care-Arbeit wirkt sich deshalb in dieser Branche besonders stark aus. Daher ist auch das sogenannte «Double-Duty Caregiving» – also Angehörige und Gesundheitsfachperson sein – verbreitet, aber bisher wenig beachtet.
  • In der Gesundheitsbranche haben rund 30% der Mitarbeitenden einen ausländischen Pass. Sie sind grösstenteils in die Schweiz eingewandert und haben entsprechend oft Familienmitglieder im nahen oder fernen Ausland. Wenn diese Personen «Distance Caregiving» für ihre Nahestehenden leisten, erhöhen sich Reisekosten, Zeitaufwand und Absprachen merklich.
  • Gleichzeitig sind v. a. weibliche Angehörige von Patient:innen vermehrt erwerbstätig – also in einer «work & care» Rolle – und können für Absprachen weniger vor Ort sein (Klinik, Pflegeheim, Apotheke, Arztpraxis etc.). Deshalb ist (oder besser: wäre) die ortsunabhängige Kommunikation in der Gesundheitsbranche eine riesige Erleichterung für erwerbstätige Angehörige. Aber die digitale Kommunikation ist in der Gesundheitsversorgung noch stark ausbaufähig – trotz punktueller Verbesserungen während der Corona Pandemie.
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Human Ressource als Schlüsselstelle stärken

Human Ressource Verantwortliche können zwar auf Elemente der traditionellen Vereinbarkeit mit gesunden (Klein-)Kindern zurückgreifen (z. B. flexible Arbeitszeiten). Für die kompetente Schlüsselrolle braucht es aber eine Perspektivenerweiterung:

  • Blick für alle Altersgruppen, d. h. vom Berufseinstieg bis zum Rentenalter.
  • Konsequenzen des medizinischen Fortschritts, d. h. ein deutlich längeres Leben mit Krankheit, Beeinträchtigung und Hochaltrigkeit während oft Jahren und Jahrzehnten.
  • Neue Sozialversicherungen, und auch das Wissen, dass Pflege- und Betreuungskosten für Schweizer Privathaushalte im internationalen Vergleich bereits heute schon sehr hoch sind.
  • Engagement für ein gesichertes Erwerbseinkommen als wichtiger Beitrag für das Haushaltsbudget und die Rentenvorsorge der Mitarbeitenden.
  • Absenzenstatistik beurteilen, d. h. Mitarbeitende melden sich manchmal mangels Betreuungsoptionen für ihre Nächsten selber krank.
  • Gesellschaftlich tabuisierte Themen ansprechen (z. B. Sterben, Krankheit).
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Internationale Impulse einholen

  • International erschienen «work & care» Publikationen bereits anfangs der 1980er Jahre vornehmlich in den USA und in Grossbritannien. Eine Empfehlung für eine Forschungsagenda in der Arbeitswelt erschien vor drei Jahrzehnten und weist auf den bereits damals regen Diskurs hin. Dies zeigt auch eine Übersicht zu Modellen guter Praxis.
    Tennstedt SL, Gonyea JG (1994). An agenda for work and eldercare research. Research on Aging 16(1), 85-108.
  • Dank diesen Diskursen steigt die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für pflegende Angehörige. Sie treten als Erwerbstätige in den Orbit der Produktivität ein. Dies eröffnet gleichzeitig den Blick auf einen gesellschaftlichen Flaschenhals: Pflegende Angehörige sind der grösste unbezahlte Pflegedienst der Welt. Sie sollen wegen des Fachkräftemangels aber gleichzeitig mehr erwerbstätig sein.
  • Da die meisten Menschen zuhause gepflegt werden möchten, weist «work & care» viele Schnittmengen zur Gesundheitsversorgung auf.
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Joker Themen wählen

Dieses ABC erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Deshalb bleibt hier Platz frei für Joker Themen zu «work & care».

Arbeitgebende und Arbeitnehmende erfahren z. B. beim aufmerksamen Zuhören in Meetings, bei Firmenausflügen oder in der Kaffepause, wo der Schuh bei den erwerbstätigen Angehörigen drückt, oder wo sie Erfolgserlebnisse haben. Sie lernen dabei auch die Kompetenzen dieser Mitarbeitenden kennen, z. B. wie sie Gesundheitsprobleme erfolgreich meistern. All dies kann die Basis für ein Joker Thema sein:

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Koordinationsleistungen in Anspruch nehmen

Von einem modernen Gesundheitswesen darf man erwarten, dass Fachpersonen und Organisationen ihre Leistungen untereinander gut koordinieren, z. B. bei Medikamenten, Hilfsmitteln oder zwischen Spital, Spitex, Apotheke und Hausarzt. Aber (allzu) oft sind Angehörige oder allenfalls die Patient:innen selber inoffizielle Case Manager. Sie arbeiten meist unsichtbar, unbezahlt und ungeschult. Die folgenden drei Stellen können koordinativ unterstützen:

  • Spitex oder Pflegeheim: In der sogenannten Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) ist die Leistung «Koordination» seit dem Jahr 2012 aufgeführt. In der Spitex findet man z. B. mit der nationalen Spitexnummer 0842 80 40 20 eine lokale Spitex, welche Koordinationsleistungen übernehmen kann.
  • Sozialberatung: Zwei Organisationen mit lokalen Fachstellen, die wesentlich über die IV oder die AHV finanziert werden, sind mit ihrer kostenlosen Beratung besonders wichtig: Die Pro Infirmis für Menschen unterhalb des gesetzlichen Rentenalters und die Pro Senectute für Rentner:innen. Auch Gesundheitsligen (z. B. Krebsliga) bieten Unterstützung.
  • Case Management der Krankenversicherung: Manche Krankenversicherungen der Nahestehenden helfen mit dem Case oder Care Management für eine bessere Koordination.
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Leadership und Betriebskultur verankern

Seit Jahrzehnten wird für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie die dafür nötige Betriebskultur gefordert. Bei «work & care» ist dies besonders wichtig, weil das Thema teils noch neu ist, und weil es Tabus und das Privatleben tangiert. Hier ist Leadership auf allen Stufen für eine angehörigenfreundliche Betriebskultur gefragt, z. B. mit dieser Auswahl von Reflexionsfragen:

  • Berücksichtigen wir pflegende und betreuende Mitarbeitende genauso wie Mütter und Väter mit gesunden Kleinkindern?
  • Gibt es Hinweise zu erwerbstätigen Angehörigen im Personalreglement?
  • Sind Vorgesetzte über die Bedürfnisse dieser Mitarbeitenden sensibilisiert?
  • Treten wir der Haltung wirkungsvoll entgegen, dass diese Mitarbeitenden weniger leistungsfähig sind?
  • Richten wir uns bei Angeboten gleichermassen an Männer und Frauen?
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Mitarbeitendengespräch nutzen

Mitarbeitendengespräche im Halbjahres- oder Jahresrhythmus sind ein geeigneter Moment, um «work & care» Themen zu besprechen und bei Bedarf Lösungen zu entwerfen oder zu überprüfen.

  • Für dieses Gespräch sind Mitarbeitende und Vorgesetzte gefragt, die sich proaktiv Gedanken machen, damit überstürzte Arbeitsabwesenheiten oder gar Kündigungen vermieden werden können.
  • Erwerbstätige Angehörige haben Fähigkeiten erlangt, die für den Betrieb wertvoll sind – Geduld, Empathie, Zeitmanagement usw.. Dies sollte in Mitarbeitendengespräche einfliessen und entsprechend gewürdigt werden.
  • Mitarbeitende: Sie müssen Notfällen in ihrer persönlichen Situation vorbeugen und auch zu ihrer eigenen Gesundheit Sorge tragen. Falls nötig, besprechen sie Lösungen am Arbeitsplatz. Sie müssen das Personalreglement kennen und sich zu vorgesehenen Leistungen informieren oder eine unabhängige Sozialberatung kontaktieren.
  • Vorgesetzte: Sie haben eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Mitarbeitenden, indem sie aufmerksam sind für deren Wohlbefinden, gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen schaffen, sowie proaktiv und kommunikativ behutsam allfällig gehäufte Abwesenheiten oder veränderte Arbeitsleistungen ansprechen.
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Nationale und internationale Interessensvertretung unterstützen

  • International gibt es bereits eine längere Tradition der Interessensvertretung für pflegende und betreuende Angehörige, insbesondere in den Commonwealth Ländern und in Skandinavien. Dazu gehören auch spezifische Allianzen von Arbeitgebenden zu «work & care» sowie länderübergreifende Angehörigenverbände.
  • In der Schweiz begann die Gründung solcher Vereinigungen erst deutlich später, zum einen als Dachverband und zum andern als Vereine für Einzelmitglieder von Angehörigen.
  • Auch Gemeinden und Kantone haben eine Aufgabe als Interessensvertretung für ihre Einwohner:innen. Gleichzeitig haben sie eine gesetzliche Rolle bei der Finanzierung der Langzeitpflege (Spitex, Pflegeheime) und Sozialberatung und damit eine Mehrfachrolle.

IGAB
Swisscarers
stand by you

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Organisation von Hilfenetzen fördern

Für «work & care» sind unterschiedliche Hilfenetze nötig, sowohl für Arbeitnehmende als auch für Arbeitgebende:

  • Zahlreiche Organisationen haben kostenlose oder kostenpflichtige Angebote für Angehörige oder Nahestehende im Privathaushalt, die teils von Gemeinden oder Kantonen koordiniert werden (Spitex, Besuchsdienste etc.).
  • Manche Angehörige stellen im Haushalt ihrer Nächsten Care Migrantinnen (meistens Frauen aus Osteuropa) an. Für diese Anstellung gelten einige Regeln – ob als Arbeitgeber:in oder via Personalverleih.
  • Das elektronische Patientendossier ist für erwerbstätige Angehörige hilfreich, auch wenn es in der Schweiz noch in den Kinderschuhen steckt. Wer eines eröffnet, hat Anspruch auf persönliche Unterlagen von Spitälern, RehaKliniken, psychiatrischen Kliniken und Pflegeheimen. Die Patient:innen können diese Unterlagen mit ihren Angehörigen teilen. Auch Apps zur digitalen Vernetzung können eine Organisationshilfe sein.
  • Arbeitgebende stellen im Intranet Informationen von lokalen Dienstleistern zur Verfügung.
  • Mehrere Fachstellen haben sich zu «work & care» angeeignet, die von Betrieben zur Lösung von individuellen oder betriebsweiten Situationen beigezogen werden können.

CareInfo

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Pflegende und betreuende Angehörige definieren

  • Traditionell gelten Blutsverwandte als Angehörige. Aber Familienformen werden vielfältiger. Zentral sind eine (mindestens vorübergehend) gemeinsam geteilte Biografie und emotionale Nähe. Daraus entsteht Verbundenheit, Verbindlichkeit und Verpflichtung. Deshalb gelten neben Verwandtschaft, Ehe- und Lebenspartner:innen auch Freund:innen und Nachbar:innen mit einem vertrauensvollen Verhältnis als Angehörige.
  • Angehörige – auch junge Menschen ab ca. 5 Jahren – übernehmen Aufgaben, die Nahestehenden im Alltag helfen und für eine möglichst hohe Lebensqualität sorgen. Umfang, Zeit und Dauer der Hilfe können stark variieren. Entscheidend ist, dass Angehörige die Tätigkeiten regelmässig und in einem gewissen Ausmass leisten, d. h. nicht nur sporadisch (einige Male pro Jahr).

Faktenblatt BAG

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Quintessenz im Betrieb nachhaltig umsetzen

Wer «work & care» nachhaltig umsetzen will, muss sich gesellschaftlich grundlegende Fragen stellen: Wer leistet für wen unbezahlte Sorgearbeit? Wie lässt sich diese Arbeit auf mehrere Schultern verteilen? Welche Aufgaben übernehmen Arbeitnehmende und Arbeitgebende, welche die Gesundheitsversorgung und das Sozialwesen, welche die Zivilgesellschaft? Die Quintessenz für Betriebe ist: Es gibt keinen «quick fix» und auch kein «one fits all». Aber es gibt erprobte Elemente und ein schrittweises Vorgehen, das je nach Betrieb nachhaltig umgesetzt werden kann:

  • Prinzip: Nicht über, sondern mit betroffenen Mitarbeitenden, Personalverantwortlichen und Vorgesetzten Angebote planen, umsetzen und auswerten.
  • Haltung: Mehrere Jahre Entwicklungszeit vorsehen (z. B. 5 Jahre).
  • Lernen von den Besten: Über den Tellerrand schauen und Gute Praxis übernehmen.
  • Dreischritt: 1. Belegschaft und Management anregen und vorbereiten, 2. Ideen umsetzen und begleiten, 3. Fortschritt beobachten und anpassen.
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Reifegrad des Betriebs einschätzen

Seit dem Aufkommen von «work & care» in der Schweiz vor rund 15 Jahren nehmen zahlreiche Betriebe die Situation von erwerbstätigen Angehörigen besser wahr.

  • Hinter dieser Entwicklung stehen oft besonders engagierte Schlüsselpersonen in der Führung oder im Personalmanagement. Wenn diese Personen den Betrieb verlassen, gehen wichtiges Wissen und Engagement verloren.
  • Deshalb bietet sich an, den Reifegrad der eigenen Organisation regelmässig einzuschätzen, um die Vereinbarkeitskompetenz zumindest halten oder weiter verbessern zu können. Dazu startete die schottische Regierung mit «Carer Positive» im Jahr 2014 eine breit angelegte Initiative in einem Public-Private-Voluntary Verbund. Für die Aufnahme in den Verbund ist eine ausgefüllte Selbsteinschätzung nötig.
  • Am Beispiel von «Peer Support», also der Unterstützung erwerbstätiger Angehöriger untereinander, lässt sich der Reifegrad darstellen der höchste Reifegrad ist dann erreicht, wenn betroffene Mitarbeitende in einem Betrieb nicht nur Unterstützung erhalten, sondern wenn sie selber das betriebliche Angebot massgeblich prägen und entwickeln oder es in leitender Position führen.
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Sozialversicherungen zugänglich machen

Arbeitnehmende und Arbeitgebende geraten bei «work & care» oft in unbekanntes Terrain, das sie sich zeitaufwändig erschliessen müssen. Bei den Leistungen der Sozialversicherungen sind zwei Gruppen zu unterscheiden:

  • Die Versicherten – d. h. die kranke, beeinträchtigte oder verunfallte Person.
  • Die Angehörigen – wenn sie Nahestehende pflegen und betreuen.

Einige besonders hilfreiche Sozialversicherungsleistungen in der Schweiz sind:

Für VersicherteFür Angehörige
Intensivpflegezuschlag für Kinder bis zur Volljährigkeit (IVG)Betreuungsgutschriften als fiktives Einkommen zur Rentenberechnung bei keiner oder sehr niedriger Erwerbstätigkeit (AHVG)
Assistenzbeitrag für Personen im Erwerbsalter zur Anstellung einer Assistenzperson (IVG, bestehender Beitrag gilt auch über das Rentenalter hinaus)14-wöchiger Betreuungsurlaub (EO) für erwerbstätige Eltern eines stark gesundheitsbeeinträchtigten Kindes
Hilflosenentschädigung (nicht vermögensabhängig) (IVG/AHVG/UVG)Pflegefachpersonen beraten Angehörige, die als «nicht beruflich an der Krankenpflege Mitwirkende» umschrieben sind, z. B. im Umgang mit Hilfsmitteln (Spitex, Pflegeheim) (KVG/KLV)
Ergänzungsleistungen (vermögensabhängig) (IVG/AHVG/UVG), inkl. sogenannte Krankheits- und BehinderungskostenVergütung nicht-medizinischer Pflege, ausnahmsweise falls sachgerecht durchgeführt (UVG)
Betreuungszulagen pro Tag (kommunale und kantonale Gesetzgebungen)
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Tag der betreuenden Angehörigen begehen

  • Seit einigen Jahren veranstalten immer mehr Organisationen in der Schweiz am 30. Oktober den Nationalen Tag für pflegende und betreuende Angehörige. Damit wird ihre Arbeit wertgeschätzt. Gleichzeitig erhält ihre gesellschaftliche Arbeit – seit der Coronapandemie auch als «systemrelevant» bezeichnet – eine regelmässige und bessere Aufmerksamkeit.
  • Für Firmen bietet dieser Tag eine alljährlich wiederkehrende und niederschwellige Möglichkeit, um betriebsintern zu sensibilisieren und öffentlichkeitswirksam aufzutreten. Dabei können Firmen Mitarbeitende mit, aber auch ohne Vereinbarkeitssituation konkret ansprechen. Dies ist eine hervorragende Möglichkeit, die «Corporate Social Responsibility» wahrzunehmen.
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Umfrage in grösseren Betrieben durchführen

Eine betriebsinterne, anonyme Umfrage zur Situation von pflegenden Mitarbeitenden ist wichtig, um das Unterstützungsangebot nicht am Bedarf vorbei zu planen. Für gute Umfrageergebnisse sind v. a. folgende Punkte

  • Vor der Befragung Mitarbeitende frühzeitig informieren (z. B. Mittagslunch, Personalinfo), um einen hohen Rücklauf für ein bisher noch eher unbekanntes Thema zu erreichen.
  • Führungspersonen proaktiv einbinden für den optimalen Multiplikationseffekt.
  • Online Befragung ermöglichen durch Login mit direktem Internet-Zugang.
  • Während des Befragungszeitfensters eine Hotline z. B. durch die Personalabteilung einrichten, um Fragen direkt zu besprechen. Die Fragen führten in Betrieben schon mehrfach zu Aha-Erlebnissen.
  • Anonymität gewährleisten, z. B. durch einen externen Dienstleister.
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Vereinbarkeitskompetenz weiterentwickeln

Vor gut 15 Jahren wurde die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Schweiz weitgehend so verstanden: Frauen mit kleinen, gesunden Kindern sind erwerbstätig. Damit wurden allerdings drei Lebensumstände verkannt:

  • (Klein-)Kinder von erwerbstätigen Eltern können frühgeboren, seit Geburt beeinträchtigt, chronisch krank, verunfallt oder sterbend sein.
  • Auch Mitarbeitende ohne Kinder übernehmen Sorgearbeit für Nahestehende im selben oder im hohen Alter.
  • Erwerbstätige Männer sind auch als pflegende Angehörige engagiert.

Der folgende Vergleich von typischen Vereinbarkeitsmerkmalen hilft, die Unterschiede besser zu verstehen und die Handlungskompetenz gezielt zu fördern.

Typische VereinbarkeitsmerkmaleEltern von gesunden (Klein-)KindernAngehörige von kranken, verunfallten, beeinträchtigen, hochaltrigen Nächsten
Entwicklungvorhersehbarwechselhaft
Präsenz & Hilfelaufend sinkendwechselhaft
Beratungsangebotehäufigwenig (wachsend)
Wohnortmeistens zusammenzusammen oder (weit) entfernt
Mündigkeit / Urteilsfähigkeitwachsendje nach kognitiven Fähigkeiten sinkend
Verfahren Sozialversicherungendurch Arbeitgebendedurch Mitarbeitende
Beteiligte Generationenv. a. zwischen Generationenzwischen und innerhalb von Generationen
Gesellschaftliche Aufmerksamkeithochtief (wachsend)
Kontakt zur Gesundheitsversorgungkurz, punktuellkurz, lange, dauerhaft
Vereinbarkeitslogikerprobt bei Kita/Hort etc.neu für Kliniken, Spitex, Pflegeheime, Arztpraxen, Apotheken etc.
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Wirkung in Kleineren und Mittleren Unternehmen erzielen

Kleinere und Mittlere Unternehmen (KMU) sind aufgrund ihrer überschaubaren Grösse oft nah am persönlichen Alltag der pflegenden und betreuenden Mitarbeitenden. Gleichzeitig fehlen aufgrund der Grösse personelle «Puffer». Deshalb sind vorausschauende Überlegungen für einen geregelten Betriebsablauf besonders wichtig:

  • Vertretungsmanagement: Damit der Betrieb bei geplanten oder unvorhergesehenen Abwesenheiten nahtlos läuft, ist eine Vertretung besonders wichtig.
  • Qualifizierung von Schlüsselpersonen: Oft haben KMU keine Personalabteilung. Deshalb sind Schlüsselpersonen umso wichtiger, die einschlägige Informationen im Betrieb verfügbar machen.
  • Know-how Allianz: KMU halten «work & care» Know-how gemeinsam mit anderen KMU bereit oder schliessen sich dazu einem grösseren Betrieb an.
  • Personalrestaurant: Betriebe mit einem Personalrestaurant ermöglichen KMU Mitarbeitenden, Essensportionen günstig zu kaufen, damit sie weniger Zeit fürs Kochen benötigen und dennoch gesund essen können.
  • Kooperationen mit lokalen Servicesx: KMU’s sind lokal oft gut vernetzt. Sie können benötigte Services unkompliziert vermitteln, z. B. Handwerksbetriebe für die Sicherheit in der Wohnung, oder die Spitex/ein Pflegezentrum für fachliche Informationen zu Pflege und Betreuung.
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X-fach bewährte Tipps sammeln

Arbeitnehmende und Arbeitgebende sammeln im gemeinsamen Gespräch bewährte Tipps und machen sie im Betrieb verfügbar. Einige Beispiele dazu:

  • Hochschulen: Wegweiser für Studierende und Mitarbeitende mit pflegebedürftigen Angehörigen (Link)
  • Privatwirtschaft: Angebot für Mitarbeitende (Link)
  • Gesundheitswesen: Ein interessanter Ansatz: Eine Pflegeheim Mitarbeiterin nimmt ihren pflegebedürftigen Vater mit an den Arbeitsort, wo er tagsüber betreut wird. (Link)
  • Politik: Ansprache zum alljährlichen Tag der Kranken der ehemaligen Schweizer Bundespräsidentin (Link)
  • Familie: Notfall Plan für unvorhergesehene Ereignisse (Link)
  • Ältere Menschen: Kommunikative Hilfsmittel zur Förderung der psychischen Gesundheit der Angehörigen von älteren Menschen (Link)
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Y-Generation sensibilisieren

In der Y-Generation (ca. 1980-1997) ist das Potenzial für zukünftige Führungspersonen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft hoch. Deshalb ist ihre Sensibilisierung zu «work & care» jetzt ganz besonders wichtig.

  • Das steigende gesetzliche Rentenalter ist Fluch und Segen zugleich. Berufswissen und Lebenserfahrung bleiben zwar länger im ersten Arbeitsmarkt. Aber für 65+ Mitarbeitende steigt das Vereinbarkeitsrisiko. Denn ihre 85+ Eltern sind vermehrt altersbedingt eingeschränkt (Mobilität, Gedächtnis etc.). Und die moderne Medizin diagnostiziert und therapiert heute deutlich mehr.
  • Eine moderne Vereinbarkeitskultur berücksichtigt Erfahrungen aller Generationen: Baby Boomers (ca. 1946-1964), X-Generation (auch Sandwich Generation, ca. 1965-1979), Z-Generation (ab 1998). Letztere erlebt die Gesellschaft des langen Lebens bei hochaltrigen (Ur-)Grosseltern hautnah und so auch Gebrechlichkeit im hohen Alter.
  • Neuere Generationen wollen moderne Wohn- und Pflegekonzepte, und Gemeinden brauchen nachhaltige Personallösungen für die Langzeitpflege. Deshalb braucht es einen klug konzipierten und finanzierten Care-Mix, u. a. mit innovativer Tagesbetreuung und neuen Wohnformen, den Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und die Zivilgesellschaft gemeinsam gestalten.
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Zeitbudget mit Lohnersatz weiterdenken

Erwerbstätige Angehörige haben oft (über-)strapazierte Zeitressourcen (Beruf, Familien- und Freundeskreise, Freizeit, eigene Gesundheit). Für diese Gemengelage reichen bisherige gesetzliche Regelungen, betriebliche Angebote und zivilgesellschaftliche, soziale und gesundheitliche Angebote nicht aus – so die Erkenntnis, die zum Vorschlag eines 1000-Stunden-Modells mit flexiblem Zeitbudget führte. Die Eckpunkte sind:

  • Erwerbstätige Angehörige übernehmen Pflege- und Netzwerkverantwortung, dafür erhalten sie gesetzlich verankerte bezahlte Freistellungsmöglichkeiten im Umfang von 1000 Stunden während eines grossen Zeitraums (Link).
  • Sie haben Anspruch auf Rückkehr oder Stellenerhöhung am bisherigen Arbeitsplatz.
  • Die Pflegehandlungen und Alltagsbetreuung leistet ein Hilfenetzwerk vor Ort.

Arbeitgebende und Arbeitnehmende engagieren sich mit solchen oder ähnlichen Modellen mit Sozialpartnern, Verbänden, Behörden und in der Politik.

Buch

Iren Bischofberger: work & care - Der Weg zur Vereinbarkeitskompetenz

Iren Bischofberger: work & care - Der Weg zur Vereinbarkeitskompetenz

Das Thema «work & care» gewinnt seit 15 Jahren immer mehr an Aufmerksamkeit. Denn es steht im Schnittfeld zweier knapper Ressourcen: dem privaten unbezahlten Sorgepotenzial für Nahestehende einerseits und dem Erwerbspotenzial andererseits.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Pflegewissenschaft im interdisziplinären Diskurs massgeblich zur Meinungsbildung mit Behörden, Politik und Betrieben sowie letztlich zur Orchestrierung von „work & care“ beiträgt.

Interview zum Buch

Bestellen beim Hogrefe Verlag:

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Iren Bischofberger: work & care - Der Weg zur Vereinbarkeitskompetenz

Iren Bischofberger: work & care - Der Weg zur Vereinbarkeitskompetenz

Das Thema «work & care» gewinnt seit 15 Jahren immer mehr an Aufmerksamkeit. Denn es steht im Schnittfeld zweier knapper Ressourcen: dem privaten unbezahlten Sorgepotenzial für Nahestehende einerseits und dem Erwerbspotenzial andererseits.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Pflegewissenschaft im interdisziplinären Diskurs massgeblich zur Meinungsbildung mit Behörden, Politik und Betrieben sowie letztlich zur Orchestrierung von „work & care“ beiträgt.

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